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Armut ist nicht die Schuld der Armen

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Einspruch! Am Sonntag erschien der Welt-Artikel „Die andere Armut”, in dem geschildert werden soll, was den armen Menschen hierzulande „wirklich fehlt” — dabei weist der Text aus meiner Sicht aber einige Schräglagen und Mängel auf:
Eingangs wird darauf abgehoben, dass gegenüber der Mitte des letzten Jahrhunderts Löhne und Kaufkraft gestiegen seien — dargelegt werden soll das damit, wie viele Eier von einem Durchschnittslohn gekauft werden können. Dass diese Durchschnitt-Betrachtung erstens lediglich die mittlerweile stark subventionierten Lebensmittel berücksichtigt, aber den teuersten Faktor im Leben von ärmeren Menschen (nämlich die Miete und Nebenkosten) auslässt, wird nebenbei noch bemerkt — dass  sie wenig über das Auseinandergehen der Schere von Arm und Reich aussagt nicht mehr.
Der zweite Fehler bei der Durchschnitt-Rechnung passiert dann, wenn der relative Armutsbegriff der OECD problematisiert wird: Angeblich würde die Armut in einem Stadtteil „sprunghaft ansteigen”, wenn ein Milliardär wie Bill Gates in die Nachbarschaft zöge. So naiv und simpel ist die OECD-Armutsschwelle dann doch nicht definiert, sie ist bei der Hälfte (nicht 60%) des Medianeinkommens der Haushalte angesetzt. Und wie das beim Median so ist, er ist gegen krasse Ausreißer wie Bill Gates ziemlich robust.
Drittens fiel mir die rhetorische Frage angesichts der enormen Sozialausgaben („120 Milliarden Euro”, vermutlich ist der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gemeint, der natürlich nicht komplett „gegen Armut” eingesetzt wird) auf: „Warum wird dann eigentlich gar nichts besser?” Man könnte überlegen, ob sich die Ungleichheit in der Gesellschaft verfestigt, ob noch die solidarische Umverteilung zwischen den Schichten und zwischen den Generationen angesichts sinkender Spitzensteuersätze und geplünderter Rentenkassen funktioniert…
Stattdessen wird nun klar, was die „andere Armut” sein soll: „fehlende Fähigkeit zur Selbstorganisation”, „mangelnde Kenntnisse über gesunde Ernährung”, „Suchtprobleme”, „Ratlosigkeit in der Kindererziehung”, „Fehlnutzung von Medien”, „eine generelle Hoffnungslosigkeit”. Diese ausschließliche Fokussierung auf individuelle Probleme klammert die gesellschaftliche Verantwortung für Armut aus: Beispielsweise ist die Gruppe mit dem stärksten Armutszuwachs laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands die Gruppe der Rentner_innen. Insbesondere ältere Frauen sind aufgrund der unfairen Löhne gefährdet — ohne dass einer der „andere Armut”-Gründe vorliegt.
Ohne Frage gibt es diese Probleme und Menschen geraten deswegen auch in Armut — aber das im Artikel gezeichnete Bild von armen Menschen in unserer Gesellschaft wird ihnen bestimmt nicht gerecht und ignoriert auch die Leistung von Eltern in Armut, die sich gut um ihre Kinder kümmern. Den Geist einer „selbst schuld”-Attitüde atmet in dem Zusammenhang besonders die Analyse des Armutsrisikos Alleinerziehung: „sich alle paar Lebensabschnitte neu zu entscheiden” sei eine „sehr folgenreiche Freiheit”. Anstatt zu überlegen, warum Alleinerziehung in Deutschland ein größeres Armutsrisiko darstellt als in anderen europäischen Ländern und wie Alleinerziehende besser unterstützt werden können, wird „Ehe-Unterricht” ins Spiel gebracht. Wer es sich nicht leisten kann, muss halt in einer unglücklichen Partnerschaft verharren ..?
Der Sozialstaat taucht bei derlei Vorschlägen nur auf, um arme Eltern von der Erziehung zu entbinden. Dass er unterstützen und Maßnahmen ergreifen sollte, um das alte (sozialdemokratische) Versprechen des Aufstiegs durch Bildung für wirklich alle umzusetzen und auch für die Eltern-Generation zu sorgen, fehlt schmerzlich.
Und: Um die hinter Armutsrisiken und steigender sozialer Ungleichheit steckenden Faktoren kümmern sich an anderer Stelle Marco Maurer und Julia Friedrichs.


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